
Vom "Schiefen-Scheitel-Mann" zur "Grossen-Nasenlöcher-Frau"
Zoom & Co sind mittlerweile aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Und unterdessen haben wir uns auch bereits mit den digitalen Formen von Workshops, Meetings und sogar Kongressen vertraut gemacht. Mit der Technik tun wir uns jedoch da und dort immer noch schwer. Noch mehr hapert es jedoch beim „Personal“.
Donnerstagmittag, kurz vor 14 Uhr. Mit der Kaffeetasse in der Hand setze ich mich ans Pult, schalte Laptop und Flatscreen an und mache es mir in meinem Bürostuhl gemütlich. Ich gönne mir eine Auszeit – drei Stunden Teilnahme an einem e-Kongress. Die Vorfreude ist gross. Für einmal nicht geben, liefern, tun. Für einmal zurücklehnen, zuhören, zuschauen, aufnehmen und wirken lassen.
Es ist soweit, Stimmengemurmel, das eingeblendete Slide mit dem Titel des Kongresses verschwindet. Ein bebrillter Herr erscheint. Platsch, mitten vor meiner Nase. Sein Kopf in Grossformat auf meinem Bürotisch. Ich rücke ein Stück weg vom Screen. Die Nähe des Herrn empfinde ich doch als etwas unangenehm. Er spricht gepresst, es ist ihm sichtlich unwohl. Er schwitzt, sein Gesicht glänzt. Er steht ganz nahe vor einer braunen Wand und wirkt eingeklemmt. Ich denke an eine ölige Sardine in einer Sardinenbüchse und muss lachen. Ok, zugegeben, es gibt nichts Schwierigeres als Begrüssungen. Der Mann führt ins Thema ein und übergibt dem ersten Redner das Wort, der e-Kongress ist eröffnet.
Viele Unternehmen haben in den vergangenen Monaten enorme Flexibilität gezeigt. Da wurden ad hoc von langer Hand geplante physische Meetings in virtuelle Events umgemodelt, e-Workshops aus dem Boden gestampft, ja sogar Kongresse in digitaler Grossaufmachung veranstaltet. Die technischen Anbieter solcher digitalen Anlässe haben ihre Chance längst entdeckt und buhlen mit ihren Angeboten um die Wette: vom interaktiven Streaming bis zum vollen Hybrid-Event, von Hologramm-Techniken, digitalen Plattformen mit und ohne Avatar, VR-Technik mit und ohne Brillen und AI-Techniken ist die Rede. Alles ist möglich.
Viele Unternehmen sind auf den digitalen Geschmack gekommen. Ganz freiwillig war’s nicht. Die interne Kommunikation ist erschwert, der direkte Weg ins Büro des Chefs ist verwehrt. Und viele wissen: Auch nach der Pandemie wird die digitale Kommunikation einen grossen Platz einnehmen. Wieso einem Manager in Singapur ein Erstklasse-Ticket bezahlen, wenn man ihn für einen Event per Click zuschalten kann?
Sie zeigen jede Zuckung, jede Unsicherheit – sie zeigen, ob sich der Redner durch das Thema mogelt, ob er sicher oder unsicher ist, ob er entspannt oder gestresst ist, ob er wirklich glaubt und dazu steht, was er sagt. Viele, die auftreten, sind sich nicht bewusst, dass sie per Bildschirm einen Teil ihres Ichs offenbaren – viel mehr als bei realen Meetings in einem Konferenz- oder Sitzungssaal, wo die Teilnehmer weit weg voneinander sassen.
Wer aber unsicher, gestresst oder ganz einfach unsympathisch wirkt, beeinflusst nicht nur die ganze Sitzung negativ, sondern hat es schwer, die anderen zu überzeugen.
Viele sind sich auch nicht bewusst, dass sie während des ganzen digitalen Meetings auf dem Screen in Grosseinstellung sichtbar sind – auch wenn sie nicht sprechen. Alle anderen können also, sozusagen in real time, die Reaktion der Teilnehmenden auf die Voten eines Sprechers oder einer Sprecherin verfolgen. Das kann gefährlich sein.
Kürzlich erreichte mich eine Anfrage eines Dienstleistungsunternehmens. Ob ich einen ihrer Mitarbeiter kurz vor seinem Auftritt noch etwas schulen könnte. Er, im normalen Leben Abteilungsleiter, würde gerne intern als Moderator solcher Events figurieren. Ich schaute mir ein paar Aufnahmen an und stellte fest, dass der Mann für diese Rolle eine grosse Begabung hat: er ist sprachgewandt, strahlt viel Sympathie und Herzlichkeit aus. Doch seine Rolle als Moderator in einem Studio übt er mit einer Unbekümmertheit aus, die für mich als Zuschauerin unbeholfen und naiv wirkt. So ist er sich in keiner Sekunde bewusst, wo die Kamera ist und zu wem er spricht.
In einem Studio herrschen spezifische Regeln. Reden ohne ein reales Publikum vor sich zu haben, braucht eine klare innere Haltung und Fokussierung. All dies versuchte ich dem jungen und dynamischen Moderator in diesem Training vor Augen zu führen. Seine Talks werden von Mal zu Mal besser. Der Fisch hat gelernt, auch im tiefen Wasser zu schwimmen.
Zurück zum e-Kongress. Der dritte Redner wird angekündigt. Eine Kapazität auf seinem Gebiet, ein Star. Er hat ein Rednerpult. Darauf platziert er seine Rede. Und beginnt zu sprechen. Der Kopf bleibt gesenkt, der Blick richtet sich auf das Pult. Die Kamera filmt eine Halbtotale. 23 lange Minuten betrachte ich nun den (schiefen) Scheitel dieses Mannes. Er ist versunken in seinen Text, redet und redet. Da im Studio kein Publikum ist, kann er sich seelenruhig mit seinem Text auf dem Rednerpult unterhalten. Und ich kann mir kurz ein Glas Wasser in der Küche besorgen.
Veranstalter, die versuchen, einen herkömmlichen Event zu „digitalisieren“, scheitern. Die digitale Welt hat ihre eigenen Regeln. Wer digital auftreten will, muss seinen gesamten Auftritt dieser eigenen Form anpassen. Angefangen mit der Redezeit. Eine digital gehaltene Rede muss kurz und prägnant sein.
«Prägnant» ist zu einer Floskel geworden. Es bedeutet: kurze Sätze, möglichst keine Schachtelsätze, möglichst wenige Nebensätze zweiten, dritten Grades, kein überheblicher «Management speak»: ein klarer roter Faden, der Zug fährt von A nach B, nicht auf Nebengeleise ausweichen. Die meisten Menschen, vor allem auch gebildete, haben die Tendenz, zu viel zu sagen zu wollen, zu viel in ihren Auftritt verpacken zu wollen. Das kommt nicht an. «Abspecken, reduzieren auf ganz wenige Hauptbotschaften», heisst die Forderung.
Wir alle mussten uns innert kurzer Zeit an die neuen Kommunikationsformen gewöhnen. Was zu Beginn der Corona-Pandemie kopflose Hektik und Dauerstress auslöste, haben wir erstaunlich schnell in den Griff bekommen. Nun geht’s ans Feintuning. Wer Autofahren lernt, braucht ein paar Autofahrstunden. Wer digital auftritt, braucht ein paar «digitale Fahrstunden». Geschult werden muss der Umgang mit der Kamera. Geschraubt werden muss an der digitalen Präsentationstechnik.
Und dann die mit Informationen, Statistiken, Grafiken und Zahlen vollgepackten Slides. Sie sind schon bei Powerpoint-Präsentationen ein Ärger und lösen da und dort Brechreiz aus. Sind sich die Leute nicht endlich bewusst, dass man solche Folien nicht lesen und schon gar nicht verstehen kann? In der digitalen Welt gehören diese überladenen Einblender nun endgültig der Vergangenheit an. Slides zu fabrizieren, ist eine Kunst. Nur wenige beherrschen sie. Wichtig ist, dass man sich auf ganz wenige, präzise Stichworte beschränkt.
Den Personalern kommt eine neue, wichtige Aufgabe zu. Sie müssen – zunächst einmal sich selbst – und dann die Leute schulen lassen. Viele Manager überschätzen nicht nur ihr rhetorisches Talent: sie überschätzen neuerdings auch ihre Auftrittskompetenz.
Bei e-Meetings kommen Schwachstellen, Unsicherheiten, Macken und Fehler viel mehr zur Geltung als im Sitzungsraum. Die Wahrnehmung für diese Feinheiten muss geschult werden. In der digitalen Welt können Details, die bei einem Live-Auftritt nicht auffallen plötzlich eine fatale Rolle spielen. Auftreten ist lernbar. Auch digitales Auftreten ist lernbar!
Wie sagt die afro-amerikanische Poetin Maya Angelou? “People will forget what you said, people will forget what you did, but people will never forget how you made them feel.” Wenn ich an den e-Kongress zurückdenke, kann ich mich kaum wehren, nicht zuerst an den „Schiefen Scheitel-Mann“ zu denken. Aber auch die „Grosse-Nasenlöcher-Frau“ bleibt mir in Erinnerung. Sie wurde aus ihrem Home-Office zugeschaltet. Leider hat sie während ihres gesamten Auftrittes nach rechts in ihren Bildschirm gesprochen. Dabei liess sie ausser acht, dass ihre Laptop-Kamera direkt in ihre Nasenlöcher gerichtet war.
Nun ja, wenigstens hat sich der Sardinenbüchsen-Mann im Laufe der Zeit an die ungewohnte Situation gewöhnt und hat seinen Job ganz gut gemeistert.
Der e-Kongress bleibt mir als grosses Lehrstück in Sachen Auftrittskompetenz in Erinnerung.